Wir treffen Josef Aron in Yad Vashem. „Ich bin oft hier“, erzählt uns der Holocaustüberlebende. Warum er die Holocaust-Gedenkstätte immer wieder besucht, fragen wir ihn. „Ich suche nach meiner Familie“.
Josef Aron, geboren 1935 in Frankfurt am Main. Zwei Geschwister und sein Vater sind die einzigen Überlebenden der einstigen jüdischen Großfamilie. Seine Mutter und acht weitere Geschwister wurden in Auschwitz vergast.
Es herrscht absolute Stille, als Josef Aron uns von seinem Leben erzählt. Wir sitzen in einem Kreis, neben ihmsteht ein Glas mit Wasser. Immer, wenn er einen Moment braucht, um sich zu sammeln, wird er aus diesem Glas trinken.
Seine Familie lebt in einem Reihenhaus in Frankfurt am Main. Als die Lage für Juden in Deutschland gefährlicher wird, flüchtet Arons Vater nach Holland. Seine Mutter bleibt mit elf Kindern allein zurück. Als sie keinen anderen Ausweg mehr sieht, bringt sie drei ihrer Kinder, darunter Josef, in ein Kinderheim nach Frankreich.
Als Josef sechs Jahre alt ist, kommen die Deutschen, während die Kinder schlafen, nehmen sie noch in ihren Nachthemden mit und zwingen sie in Viehwagons. Die Luft ist stickig, es gibt kaum Raum und kein Wasser. Als der Zug in Bergen-Bel-
sen ankommt, müssen die Kinder über die Leichen derer klettern, die die Fahrt nicht überlebt haben. Josef klammert sich an die Hand seiner älteren Schwester. Sie versucht, ihn zu beruhigen, versichert ihm: „Solange du bei mir bist, wird dir nichts passieren“. Bei der Selektion werden sie getrennt. Die verängstigten Kin- der stehen in Reihen, daneben die Soldaten. Wer zeigt, dass er müde, erschöpft oder krank ist, wird erschossen.
Wir sind betroffen. Es scheint, als könne man die Schwere des Erzählten in der Luft fühlen. Für die meisten von uns ist es das erste Mal, die Erlebnisse eines Überlebenden persönlich zu hören. Die schwere Stille wird durch einen lauten Handy-Klingelton unterbrochen. Das Smartphone gehört Josef Aron.
Der 88-Jährige blickt kurz auf das Display. „Das ist meine Nichte“, verrät er uns. Er freut sich über ihren Anruf. Sie reden kurz auf Hebräisch mit- einander. Dann erzählt Aron auf Deutsch weiter und die Schwere kehrt zurück.
Einmal entdeckt Josef nach der Zwangsarbeit eine rohe Kartoffel auf dem Boden. Der Hunger treibt ihn dazu, die Kartoffel aufzuheben und einen kleinen Teil zu essen. Als er die Kartoffel mit anderen Kindern teilen will, sieht ihn ein SS- Mann und brüllt.
„Du dreckiger Jude! Die Kartoffel gehört nicht dir, sie gehört den Deutschen!“, wiederholt Josef Aron die Worte des Mannes. Es fällt ihm schwer. Dann trinkt er einen Schluck Wasser, scheint kurz in Erinnerungen versunken.
Josef wird von SS-Männern gepackt und in einen unterirdischen Raum gestoßen, in dem die Häftlinge gefoltert werden. Seine Peiniger binden das Kind auf einem Tisch fest und reißen ihm alle Zehennägel aus.
„Diesen Schmerz spüre ich noch heute“, unterbricht der 88-Jährige den Erzählfluss und schweigt. Niemand spricht.
Am nächsten Tag muss er wieder arbeiten. Einige Monate später wird er zusammen mit einigen anderen Kindern beim morgendlichen Appell aus der Reihe gezogen. Sie werden in einen Raum gezerrt, an den Armen aufgehängt und ausgepeitscht.
Josef Aron ringt sichtlich um Fassung und man sieht, dass es ihm schwerfällt, weiterzusprechen. Wir haben Tränen in den Augen.
Die nächsten Jahre werden er und die anderen Kindern täglich von den Soldaten gefoltert und vergewaltigt. Er ist dem Tode näher als dem Leben. Sein Glaube ist es, der ihn durch diese Hölle auf Erden hilft. Als er von den Briten befreit wird, ist Josef zehn Jahre alt und nur elf Kilogramm schwer. Er kommt in ein Spital in Genf. Ein ganzes Jahr vergeht, bis sich das Kind soweit erholt hat, dass es zu einer jüdischen Familie nach Basel gebracht werden kann.
Dem Roten Kreuz gelingt es, seine Schwester ausfindig zu machen. Doch er kann sich nicht mehr an sie erinnern. Erst langsam kehrt die Erinnerung zurück. Das Rote Kreuz findet auch den Vater der Geschwister in Holland, aber Josefs Schwester weigert sich, bei ihm zu leben.
Die Geschwister gelangen mit einem Schiff ins Heilige Land. Dort werden sie wieder getrennt. Josefs Schwester kommt in ein Kibbuz, während man ihn in ein Kinderheim bringt. Er lebt in verschiedenen Heimen, bis er auf die Straße gestellt wird. Ohne Wohnung, ohne Hilfe und ohne Ausbildung.
Josef Aron schläft auf einer Bank im Park und isst aus Mülleimern. Bis ihn der deutsche Jude Rubinstein aufgabelt. Er lässt ihn bei sich wohnen, hilft ihm, Arbeit zu finden und auf eigenen Beinen zu stehen. Seinen ersten Job bekommt Josef Aron durch ein Wunder: Er bewirbt sich in einem Café. Doch der Besitzer lehnt ab – denn der Bewerber kann weder lesen noch rechnen. Verzweifelt zieht sich der junge Mann in eine Ecke des Cafés zurück und weint und betet zu Gott. „Auf einmal spürte ich, wie sich eine Hand auf meine Schulter legte und eine Stimme sagte: Die Welt ist offen für dich. Ich bin bei dir.“
Noch heute hört man die Ergriffenheit in seiner Stimme, als Josef Aron uns von diesem besonderen Augenblick erzählt.
Ab diesem Moment kann er lesen, schreiben, rechnen – und beherrscht sechs Sprachen fließend. Der Café-Besitzer erlebt das Wunder mit und gibt ihm den Job. Josef Aron liebt den Kellner-Beruf.
Doch nach einiger Zeit zieht es Josef Aron zurück nach Deutschland, zurück nach Frankfurt, weil er hofft, bei seinem ehemaligen Elternhaus vermissten Famili- enangehörigen zu begegnen. Diese Hoffnung erfüllt sich nicht. Doch er erhält ein anderes Geschenk: Niedergeschlagen will er sich bereits auf den Heimweg machen, als er den starken Drang verspürt, bei einem anderen Reihenhaus zu klingeln. Er tut es.
Die Frau, die ihm öffnet, bricht bei seinem Anblick in Tränen aus: „Du siehst aus wie deine Mutter!“ Ehe sie von den Nazis abgeholt wurde, hatte Josefs Mutter dieser ehemaligen Nachbarin Bilder der Familie zur Aufbewahrung anvertraut.
Josef Aron holt wieder sein Handy hervor und reicht es herum. Der Reihe nach dürfen wir uns ein altes Bild seiner Mutter ansehen, das sein Handy als Hintergrundbild ziert. Er ist sichtlich stolz auf seine schöne und starke Mutter.
Er bleibt in Europa. Über zehn Jahre kellnert Josef Aron in einem jüdischen Hotel im Schweizer Grindelwald am Fusse der Eiger Nordwand. Dann kehrt er nach Jerusalem zurück und arbeitet bis zu seinem Ruhestand als Kellner im Café Max.
Wie kann ein Mensch mit dieser Lebensgeschichte so viel Freundlichkeit und Lebensmut ausstrahlen?
Josef Aron ist messianischer Jude, erfahren wir noch. Und wenn er nicht in Yad Vashem auf Spurensuche ist, verbringt er seinen Vormittag mit Freunden im Café. Er lädt auch unsere deutsche Reisegruppe zu einer weiteren Begegnung ein – ganz unzwungen im „Bezalel“.
Viele Holocaustüberlebende in Israel leben in Armut. Bitte unterstützen Sie unseren Hilfsdienst für bedürftige Holocaustüberlebende. Herzlichen Dank!