Auf der Flucht vor Konflikten und Krisen: Juden kehren nach Israel zurück

2023 entwickelt sich zu einem außergewöhnlichen Jahr für die Alijah (Einwanderung nach Israel). Allein im ersten Quartal trafen über 18.600 jüdische Neueinwanderer in Israel ein, ein Anstieg von 24% im Vergleich zum Vorjahreszeitraum. Bereits 2022 zählte der jüdische Staat so viele Neueinwanderer wie seit 20 Jahren nicht mehr. Doch die Freude ist etwas getrübt, denn es sind vor allem Krisen und Konflikte, die diese Juden bewegen, ins Land ihrer Vorväter zurückzukehren.

 

Auslöser Ukraine-Krieg

Der größte Teil dieser jüngsten Einwanderungswelle wurde durch Russlands Einmarsch in die Ukraine ausgelöst. Seit Beginn des Ukraine-Kriegs im Februar 2022 sind rund 80.000 russischsprachige Juden in Israel eingetroffen. Die ICEJ hat diese dringende Alijah tatkräftig unterstützt und hunderte Flüge aus der Ukraine, Russland und anderen ehemaligen Sowjetrepubliken gesponsert. Außerdem unterstützte die ICEJ die Integration der Kriegsflüchtlinge in die israelische Gesellschaft. Seit Ende des letzten Jahres zeichnet sich auch eine wachsende Alijah-Welle aus den baltischen Staaten Lettland, Litauen und Estland ab.

Alijah aus dem Baltikum verdreifacht

Die litauische Hauptstadt Vilnius war einst als das „Jerusalem des Nordens“ bekannt. Im Mittelalter war die Region ein relativ sicherer Zufluchtsort für aschkenasische Juden, die vor schwerer Verfolgung aus Westeuropa flohen. Dennoch war das Leben nicht einfach: ab Ende des 18. Jahrhunderts durften Juden auf Erlass von Katharina der Großen nur noch im sog. „Ansiedlungsrayon“ im Westen des russischen Zarenreichs (heute Polen, Belarus, Litauen und Ukraine) leben. Immer wieder erlitten sie Pogrome und Schikanen. Anfang des 20. Jahrhunderts lebten fast fünf Millionen Juden in dem rund eine Million Quadratkilometer großen Gebiet. Nach dem Überfall Nazi-Deutschlands auf Polen und die Sowjetunion wurden die meisten von ihnen im Holocaust ermordet.

Heute leben im Baltikum rund 8.400 Juden, nach dem israelischen Rückkehrgesetz dürften sogar ca. 31.000 Personen in den jüdischen Staat einwandern. Viele von ihnen sind nach dem Ende des Eisernen Vorhangs aus Russland hierhergezogen, in der Hoffnung auf eine bessere Zukunft. Der russische Einmarsch in die Ukraine hat diese Hoffnung zerschlagen. Die Sorge ist groß, dass das Baltikum als nächstes ins Visier Moskaus geraten könnte. Inzwischen hat sich die Alijah aus den baltischen Staaten fast verdreifacht und seit Dezember 2022 konnten wir 156 baltische Neueinwanderer sponsern.

Konflikte verlangsamen Alijah aus Äthiopien

2015 beschloss die israelische Regierung die Wiederaufnahme der äthiopischen Alijah. Rund 9.000 Mitglieder der uralten äthiopisch-jüdischen Gemeinschaft, die weiterhin in Transitlagern in Addis Abeba und Gondar verharrten, sollten nach Israel geholt werden. Bisher sind rund 6.750 von ihnen gekommen, etwa die Hälfte von ihnen mit Hilfe der ICEJ. Doch immer wieder stellen sich der äthiopischen Alijah Hindernisse in den Weg. Mal sind es die sich scheinbar endlos wiederholenden Neuwahlen in Israel, mal ist es die Covid-Pandemie, mal sind es Dürre, Hungersnot und Bürgerkrieg in Äthiopien.

Auch in diesem Jahr war es nicht anders. Im Frühjahr sollte die Operation „Tzur Israel“ (Fels Israels), die seit 2021 in Gange ist und mit der 3.000 äthiopische Juden nach Israel geholt werden sollen, abgeschlossen werden. Doch im April brach im Nachbarland Sudan ein Bürgerkrieg aus und die äthiopische Regierung stoppte vorübergehend alle weiteren Flüge. Kurz darauf kam es in der Region Gondar, wo viele äthiopische Juden leben, zu blutigen Unruhen zwischen Christen und Muslimen. Dutzende Menschen kamen ums Leben, Kirchen und Moscheen wurden in Brand gesteckt. Auch drei äthiopisch-jüdische Männer wurden erschossen – unschuldige Opfer einer Spirale der Gewalt.

Inzwischen dürfen die Flugzeuge wieder starten und die Jewish Agency (Israels Einwanderungsbehörde) hofft, „Tzur Israel“ in den nächsten Wochen abschließen zu können.

Bnei Menasche im Kreuzfeuer

Im Mai erreichte uns die erschreckende Nachricht über ethnische Unruhen in Nordostindien. Hier, im Bundesstaat Manipur, leben noch rund 5.000 Bnei-Menasche-Juden. Plötzlich gerieten sie im Konflikt zwischen den überwiegend christlichen Kuki und den mehrheitlich hinduistischen Meitei zwischen die Fronten.

Mehrere Bnei Menasche wurden getötet und mindestens zehn weitere werden vermisst, seitdem sie in umliegende Wälder geflüchtet sind. Zwei Synagogen sowie eine Mikwa (jüdisches Ritualbad) wurden niedergebrannt und fast 200 Bnei-Menasche-Familien haben ihre Häuser infolge von Brandstiftung und Plünderungen verloren. „Wir waren vollkommen hilflos, als unser Haus mit Steinen beworfen wurde“, berichtete Josef Vaiphei, der mit seiner Familie aus Imphal flüchtete. Die Polizei habe nichts unternommen, erzählte er weiter. Erst als die Armee einrückte, um die Ordnung wiederherzustellen, wurden sie evakuiert und auf einem Militärstützpunkt untergebracht.

Josef und seine Familie konnten immer noch nicht nach Hause zurückkehren, aber sie wissen, der für die Zukunft einzig richtige Weg, ist die Reise nach Israel anzutreten. Im Laufe des letzten Jahrzehnts wanderten Tausende Bnei Menasche, die sich als Nachfahren des Stammes Manasse betrachten, nach Israel ein. Angesichts der akuten Gefahr werden in Israel Stimmen laut, die noch in Indien lebenden Bnei Menasche so bald wie möglich zu evakuieren. Aktuell werden Pläne ausgearbeitet, viele von ihnen in den nächsten Monaten nach Israel zu holen.

Zeit zum Handeln

Seit Jahresbeginn konnten wir rund 1.120 Alijah-Flüge sponsern und weiteren 1.500 jüdischen Neueinwanderern bei ihrem Umzug und ihrer Integration in Israel helfen. Dazu zählen Alijah-Vorbereitungskurse, Transport zum Flughafen, Hebräisch-Kurse sowie Weiterbildungsprogramme.

Ob der Krieg in der Ukraine, die religiösen Unruhen in Äthiopien oder die ethnischen Konflikte in Indien - als Christen wollen wir an der Seite des jüdischen Volkes stehen.